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Die Leipziger Meuten auf Fahrt in Zeitz

Die Leipziger Meuten auf Fahrt in Zeitz

Blick in die Geschichte entlang der Weißen Elster

„Jahrzehnte waren die Leipziger Meuten nahezu vergessen. Die DDR interessierte sich nicht für ihre Lebensgeschichten. Erst ab den 80ern änderte sich das langsam. Heute bilden die Werke von Sascha Lange die ausführlichste Dokumentation auf aktuellstem Forschungsstand zum Leben und Wirken der Meuten.“

Ein Gastbeitrag von Max Fuchs

Es war eine zufällige Entdeckung, als ich mir kürzlich in Vorbereitung auf eine Hausarbeit das Buch „Die Leipziger Meuten: Jugendopposition im Nationalsozialismus“ des Leipziger Historikers Sascha Lange ein zweites Mal durchlas und den Zeitzer Bahnhof auf einem der Fotos erkannte. Das Foto zeigt Wilhelm Endres
(✝2004) sowie drei weitere Mitglieder der Meute „Hundestart“ beim Faltbootaufbau. Im Hintergrund deutlich zu erkennen: das Zeitzer Bahnhofsgebäude, die Dreierbrücke sowie der Pavillon. Doch wer waren Endres und die Meute „Hundestart“?

Wilhelm Endes und Mitglieder des Hundestarts beim Falbootaufbau

Derselbe Ort heute

Jugendliche außerhalb der Hitlerjugend

Mitte der 30er Jahre tauchten im Leipziger Stadtbild Jugendcliquen auf, die abseits der Hitlerjugend ihre Freizeit autonom gestalteten. Bereits ihr Wanderoutfit – bestehend aus kurzen Lederhosen oder Röcken, karierten oder einfarbigen Hemden, Kniestrümpfen und Wanderschuhen – unterschied sich deutlich von den Uniformen der Staatsjugendorganisation. Diese hatte mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 den Anspruch erhoben, die gesamte deutsche Jugend zu erfassen. Alle anderen politischen, konfessionellen oder bündischen Jugendorganisationen wurden verboten. Doch die Leipziger Jugend, insbesondere die Arbeiter:innenjugend, machte es den Nazis nicht einfach mit der Organisierung. 1935 waren gerade einmal ein Drittel der um die 65.000 Leipziger Jugendlichen Mitglied in der HJ und selbst 1938 waren etwa 16.000 nach wie vor nicht in HJ oder BDM (Bund Deutscher Mädel) organisiert.

Stattdessen trafen sich insgesamt bis zu 1.500 Jugendliche an festen Treffpunkten in ihren Vierteln. Sie tauschten sich aus, hingen ab, sangen Arbeiter:innenlieder oder dichteten Volkslieder um, gingen zusammen zum Rummel oder auf Wanderungen in die Natur. Doch die Jugendlichen prügelten sich auch mit der HJ oder warfen mit Steinen Schaukästen und Heime der Staatsjugend ein. Das führte dazu, dass sich ab 1937 die Gestapo mit diesen Jugendcliquen beschäftigte, die sie „Meuten“ nannte. Etwa zwei Dutzend gab es von diesen über das ganze Stadtgebiet verteilt in unterschiedlicher Größe. Manchmal gehörten nur zehn Jugendliche dazu, andere waren 30 bis 40 Jugendliche stark. Die größte Meute hat bis zu 100 Jugendliche umfasst. Dabei gehörten zu den Meuten jeweils etwa ein Viertel bis ein Drittel Mädchen, die in den Jugendcliquen eine emanzipiertere Rolle besaßen, als es die NS-Ideologie vorsah. Sie beteiligten sich dabei ebenfalls an militanten Aktionen. Die NS-Justiz wird sie später jedoch in eine passive Rolle drängen und ihnen eine eigene politische Willensbildung absprechen.

Die Treffpunkte der Meuten führten zu ihren Namen. Die Jugendclique der Wilhelm Endres und seine Freund:innen angehörten, war nach dem Friedhof in Leipzig-Kleinzschocher, welcher im Volksmund auch den Namen „Hundestart“ trug, benannt. 2002 gab Endres dem Historiker Sascha Lange ein Interview zu seiner Zeit bei den Meuten und dazu das Bild mit dem Zeitzer Bahnhof im Hintergrund.

Verfolgung und Motivation der Meuten

1938 kam es zu ersten Prozessen gegen vermeintliche Rädelsführer der Meuten Lille (benannt nach der Lilienstraße in Leipzig-Reudnitz) und Hundestart. Die wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ Beschuldigten wurden zu Zuchthausstrafen von einem bis acht Jahren verurteilt. Zwei davon kamen später ins KZ Buchenwald. Die harten Strafen, bei einer sehr dünnen Beweislage, sollten die Jugendlichen einschüchtern. Das taten sie aber vorerst nicht. Die Meuten trafen sich weiter, führten ihr Fahrtenwesen an den Wochenenden und in den Schulferien fort. Als Ziele werden in Erinnerungsberichten von sowie Interviews mit ehemaligen Meuten-Mitgliedern die Lübschützer Teiche, eine Blockhütte bei Zeitz, das Muldenwehr bei Eilenburg oder die Sächsische Schweiz genannt. Die Gruppe um Endres wird sich wohl am Zeitzer Bahnhof in ihre Faltboote gesetzt und in einer Tagestour elsterabwärts zurück nach Leipzig gefahren sein.

Doch auch politisch entwickelten sich die Meuten weiter. Ein Kreis um die Brüder Wolfgang und Rudolf Schieweg der Meute „Reeperbahn“ (benannt nach einem damals bei Jugendlichen beliebten Straßenabschnitt auf der heutigen Georg-Schwarz-Straße in Leipzig-Lindenau) begann sich Gedanken zu machen, wie sie sich nach einem möglichen Verbot weiter betätigen könnten. Sie verteilten unter anderem Streuzettel mit Aufschriften wie „HJ verrecke!“, „Weg mit Hitler!“ oder „HJ – schlagt sie zu Brei!“.

Politisch sozialisiert

Einige der Meuten-Mitglieder waren vor 1933 in den Kinder- und Jugendorganisationen der SPD (Kinderfreunde, Rote Falken, Sozialistische Arbeiterjugend), der KPD (Rote Jungpioniere, Kommunistischer Jugendverband Deutschland) oder kleinerer sozialistischer/kommunistischer Parteien und Organisationen gewesen. Sie waren also zumindest teilweise durchaus politisch sozialisiert. Dazu kam die emotionale Unzufriedenheit, weil es die HJ nicht schaffte ein für alle Jugendliche attraktives Angebot zu schaffen, die HJ-Dienste als Bevormundung und der HJ-Streifendienst als Schikane wahrgenommen worden.

1939 ging die Gestapo dazu über so viele Jugendliche aus den Meuten wie möglich festzunehmen. Sie saßen monatelang in U-Haft, wurden unter Schlägen dazu gedrängt vorgefertigte „Aussagen“ zu unterschreiben, kamen in ein „Jugendschulungsheim“ in Mittweida und wurden zu Zuchthausstrafen verurteilt. Dazu kam die Verpflichtung zur HJ ab 1939, die Arbeitsdienste in der Rüstung oder der Einzug in die Wehrmacht. Dadurch wurden die Meuten aufgerieben. Dennoch gab es Kontinuitäten bis zum Kriegsende und ab 1942 eine neue Meuten-Generation, die „Broadway-Cliquen“, die sich vor allem über Swing, Jazz und einem anglophilen Lebensstil von der HJ abgrenzte und mit dieser in Konflikt geriet.

Vergessen und wiederentdeckt

Jahrzehnte waren die Leipziger Meuten nahezu vergessen. Die DDR interessierte sich nicht für ihre Lebensgeschichten. Erst ab den 80ern änderte sich das langsam. Heute bilden die Werke von Sascha Lange die ausführlichste Dokumentation auf aktuellstem Forschungsstand zum Leben und Wirken der Meuten. Im Leipziger Westen hat sich ein alternatives Hausprojekt nach den Meuten als „Meuterei“ benannt. 2019 lief ein Theaterstück zur Thematik im Schauspiel Leipzig. Im Schulmuseum in Leipzig gibt es eine Dauerausstellung zu den Meuten und Schulen oder Vereine können außerdem eine Wanderausstellung zu oppositionellen Jugendgruppen in Sachsen während des Nationalsozialismus buchen.

Oppositionelle Jugendgruppen gab es überall und zu jeder Zeit im Dritten Reich, macht Lange in seinem Buch „Meuten, Swings und Edelweißpiraten: Jugendkultur und Opposition im Nationalsozialismus“ deutlich. So gab es zum Beispiel ebenfalls eine Meute im noch näheren Pegau. Ob es Jugendgruppen, die sich gegen die Bevormundung und Gleichschaltung durch die Hitlerjugend zur Wehr setzten in Zeitz gab, ist nicht bekannt. Auch wenn es allemal denkbar wäre, bleibt das Spekulation. Durch das Foto von Wilhelm Endres lässt sich jedoch zumindest belegen, dass die Leipziger Meuten vereinzelt zur Freizeitgestaltung den Weg nach Zeitz fanden. Die Erinnerung an diese oppositionelle Jugendkultur zeigt außerdem einmal mehr, dass man nie zu jung (oder zu alt) war, um Spielräume zu finden nicht mitzumachen.

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About The Author

REINER ECKEL Jahrgang 1953, wohnt in Zeitz. Der Web 2.0-Enthusiast ist in Sachen Web, Grafik und Layout als Autodidakt unterwegs. Betreibt zeitzonline.de seit 23. Februar 2011.

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