Oktober 04, 2024

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Eine Stadt reißt sich ab

Eine Stadt reißt sich ab

Ich bin sauer und verärgert und möchte mich vorab für polemische und affektive Äußerungen entschuldigen. Zuerst hielt ich es für einen Scherz, dass die Gebäude der ehemaligen ZEKIWA -Werke in der Schädestraße ebenfalls abgerissen werden sollen. Doch schnell war klar, dass pünktlich zur Buchvorstellung von Ernst Albert Naethers Chronik zur Zeitzer Kinderwagenindustrie und dessen triumphalen Werdegangs, ein Großteil der noch übrig gebliebenen Fabrik dem Abriss geweiht wird.

Bekannt als Teil der Zeitzer Kinderwagenindustrie war die Produktionsstätte von Opel & Kühne eine Stadtikone. Ein Bauwerk, dessen architektonische Meisterleistung einem erstklassigen Industriedenkmal in nichts nachsteht. Ganz im Gegenteil, die Backsteinfassade und die Etagendecken aus Stahlbeton hätten wohl noch einmal 100 Jahre Stadtgeschichte schreiben können. Doch dazu soll es nicht kommen. Warum nicht? Weil niemand vor Ort sich vorstellen kann, was hier zukünftig Gutes passieren kann. Finanziert wird der Abriss nun mit Fördermitteln zur Sanierung von Hochwasserschäden und erscheint damit so manchem Mitbürger weder durchdacht noch nachhaltig.

Viele Gesichter

Zeitz ist zwar stark vom Leerstand geprägt, doch sind diese Räume gleichzeitig Möglichkeiten zur Entwicklung und können sogar das Potential sein. Wenn es auch sonst kaum welches gibt. Das sehen aber nur die Wenigsten. Es kommt mitunter auf den Blickwinkel an und dieser hängt auch davon ab, wie lange man schon die Opferhaltung vom Wendeverlierer verinnerlicht und der Provinzialismus eine Kleinstadtpolitik bestimmt. Während die Zeitzer Kinderwagenindustrie für die hiesige Identität eine immer größere Rolle spielt (weil es vor allem ein fantastisches Alleinstellungsmerkmal ist), wird der beinah letzte stille Zeuge dieser beachtlichen Geschichte dem Erdboden gleich gemacht. Eine offizielle Ausschreibung mit Exposé zur Umnutzung sucht man vergebens. Mangelnde Bereitschaft und allgemeiner Unmut machen Zeitz immer weniger anschlussfähig. Aber woran scheitert die Vermarktung und Revitalisierung der Zeitzer Brachen? Hier streiten sich die Geister. Fest steht: Der Bedarf nach solchen Räumen wächst. Bestes Beispiel ist die Nudel (https://zeitzonline.de/kulturzeitz/ausstellung/tag-der-industriekultur/). Ich kann mir die verständnislosen, entgeisterten und teils wütenden Blicke der BesucherInnen aus Leipzig vorstellen, die in 4 Wochen zum Tag der Industriekultur nach Zeitz kommen und beim Spaziergang vorbei an der Schädestraße in das bereits entkernte Innere der Backsteinfabrik schauen.

 

Mitteldeutscher Exodus

Künstler und Kreativschaffende müssen zur Zeit wieder verstärkt ihre Ateliers in der mittlerweile international bekannten Spinnerei im Leipziger Westen räumen – die Mieten sind zu teuer. Aber nicht nur dort. Die Gentrifizierung hat ein Niveau erreicht, dass sich nur noch die Wohlhabendsten einer renommierten Szene leisten können. Noch vor 15 Jahren war der selbe Leipziger Westen geprägt von Industriebrachen und maroden Gründerzeitbauten. Ganze Mehrfamilienhäuser auf der Karl-Heine-Straße, von Lindenau bis Plagwitz, konnte man für ein paar Tausend Euro erwerben. Aber was ist seit dem passiert? Es wurden Visionen gesponnen und Ideen umgesetzt. Vor allem war man offen für Zwischennutzungskonzepte. Hier hat die Stadt Leipzig Weltsicht bewiesen und klopft sich heute berechtigt auf die Schulter. Sie war kompromissbereit und experimentierfreudig. Die Räume wurden zugänglich gemacht oder einfach besetzt. Für alle Neuankömmlinge war dieses Stadtbild manifest und stiftet heute Identität. Die Industriebauten sind nunmehr stadtbildprägend und nicht länger DDR-Altlasten. Von Hypezig war die Rede und dem Neuen Berlin. Diese Form der nachhaltigen Umgestaltung haben viele Städte erkannt und den Weg geebnet, für eine kreative Nachnutzung bzw. eine artgerechte Instandhaltung.

Vor allem ländliche Regionen in Ostdeutschland, deren Industriezweige während der Wiedervereinigung wegrationalisiert wurden und heute von Demographie und leeren Kassen geplagt sind, stehen unter Druck Alternativen zu finden. Warum also nicht von den Fehlern und Erfolgen der anderen lernen? Die Oberlausitz ist dafür ein positives Beispiel.

 

Eine Stadt schafft sich ab

In Zeitz allerdings sieht man das Potential vor lauter Brachen nicht. Hier sind die Bauten ein Schandfleck, eine Assoziation von Systemverfall. Lücken entstehen im Stadtbild und der Erinnerung. Die Folgen sind perforierte Viertel – Straßenzüge, die aussehen wie das Gebiss eines beinahe Zahnlosen. Hier werden keine Perspektiven entwickelt, sondern das Schicksal der Stadt als Wendeverlierer besiegelt. Unwiederbringlich sich der Chancen entledigt. Persona non Grata.

Das Kurzzeitdenken schafft seitens der Stadt vielleicht einen überschaubaren Finanzhaushalt. Wenn allerdings die jungen Menschen in ein paar Jahren fragen, weshalb man das bisschen Geld viel lieber in den Abriss gesteckt hat anstatt in den Erhalt, in die Ausschreibung oder das Marketing und vor allem Industriebrachen in Ostdeutschland nicht nur ein Mekka der Baukunst werden, sondern auch der freien Entfaltung der Kreativwirtschaft dienen und eine Renaissance erleben, kommt Wut auf. Weil man sich des großen Verlusts bewusst wird. Man wird verstanden haben, was man sich dieser Orts noch nicht vorstellen kann: Dass gute Ideen Platz brauchen und ein Neubau nie an den kulturellen Wert eines Altbaus herankommt. Die Folge des Stadtumbaus ist vor allem eins: gesichtslose Architektur – fensterlose Blechhütten, Funktionsbauten. Denn heute ist an die Funktion keine Ästhetik mehr geknüpft, nur noch ökonomische Faktoren dominieren die Entscheidung über den Standort. Das mag mancher als Minimalismus wertschätzen doch rechtfertig es nicht die Zerstörung bauhistorischer Anlagen. Zeitgenössisches Handeln wirkt sich anders aus, es sollte nicht mehr um Müllverbrennung sondern um Re- und Upcycling gehen. Letztendlich kommt in diesem Handeln nur die Hoffnungslosigkeit zum Ausdruck.

Brachen sind keine Ungeheuer, es sind Möglichkeitsräume und dafür gibt es Interessenten. Diese Entwicklung wird bereits sichtbar, auch in Zeitz. Warum also die ohnehin leeren Kassen weiterhin belasten, um Gebäude abzureißen für die Interessenten Geld zahlen würden, um etwas daraus zu machen? Es klingt schizophren. Gewiss hat ein Fürsprecher des Abrisses genau das passende Gutachten in seiner Schublade, das besagt, dass das Objekt einsturzgefährdet ist oder vom Hausschwamm befallen oder einfach nur die demütigende Sicht verdeckt zum misslichen Gesamtensemble der Unterstadt.


Denkmalkultur wird Sozialpolitik

Ich habe so manchen höhnisch sagen hören: „Prima, ein leerstehendes Gebäude weniger“. Aber das bedeutet auch eine Chance weniger. Für die Generation Y und alle Nachkommen gehören die Industriebrachen, die unlängst den Status „Denkmal“ verdient haben, zum Stadtbild dazu wie Michaeliskirche und Rathaus. Wobei der Abriss von letzterem sogar schon in Betracht gezogen wurde. Vielleicht sollte man hier noch einmal nachhaken. Zum Nekrolog ist es nicht mehr weit.

Für mich bedeutet das weitum bekannte und langjähre Motto der Stadtplanung „Mut zur Lücke“, dass man den Mut haben sollte die Freiräume konstruktiv zu gestalten, jede Chance in Erwegung ziehen um neue Ideen und neues Leben in die Stadt zu bringen und nicht etwa neue Lücken zu erzeugen. Sonst sägt man den einzigen Ast ab, auf dem noch sitzen kann und wird letztlich als Schildbürger in die Geschichte eingehen.

copyright Herr Linse, Quelle: http://www.fotocommunity.de/photo/zekiwa-schaedestrasse-zeitz-herr-linse/37873291

 

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Medienkunst, Verlagswesen, Kloster Posa, Kreativwirtschaft, Denkmalkultur, Stilblüten aus Mitteldeutschland

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