2003 habe ich in diesem Gebäude eine Lesung mit dem Schriftsteller Michael Meinicke veranstaltet. Es erschien kein einziger Gast. Später haben wir noch viele Lesungen gemeinsam gemacht, die stets gut besucht wurden. Bei ihm zu Hause fand ich das Foto, das heute als Vorlage für das erste Gemälde der Zeitzer Stadtraumgalerie Verwendung findet. Das Mädchen auf dem Bild, ist Sue – eine Freundin des Autors im Freibad Pankow in Berlin im Jahr 1970. Sue heißt Susanne Beucher und kommt in seinem Roman OSTKREUZ vor. Heute ist sie auch anwesend und ich freue mich sehr, sie endlich kennenzulernen. Das Foto stammt vom Berliner Fotografen Heinz Krüger. Krüger, der 1919 geboren und 1980 verstorben ist, kam nach Kriegsende nach Falkensee und arbeitete als freier Fotograf in der Berliner Agentur „Puck-Studios – Jenseits des Üblichen“. Dieser erste private Pressedienst in Berlin wurde schnell zum Begriff für eine Fotografie, die Geist und Nerv jener Zeit nachdrücklich erfasste. Seit 1952 wurde er Vertragsmitarbeiter der Zeitschrift „Freie Welt“ die ihren Redaktionssitz in Berlin und ein ständiges Auslandsbüro in Moskau hatte. Sie galt als die Auslands-Illustrierte der DDR. 50 Reportagereisen, auf denen ein reicher Bildfundus entstand, führten Krüger in nahezu alle damaligen Unionsrepubliken der Sowjetunion, in andere sozialistische Länder, nach Westafrika und Zypern.
Gemeinsam mit einer Jury aus Künstlern und Kunsthistorikern habe ich dieses Motiv gewählt, das im Rahmen des Projekts OPEN SPACE ZEITZ den Auftakt bieten soll für die kreative und künstlerische Auseinandersetzung mit gesellschaftspolitischen Themen in Form von Streetart an Häuserwänden bzw. durch Abriss sichtbar gewordenen sogenannten Brandgiebeln. Dort wo etwas fehlt, finden wir heute ein Bild. Diese Absenz hat bereits Katharina Gießler in ihrer Diplomarbeit 2017 künstlerisch thematisiert und gekonnt inszeniert.
Das Besondere an Street Art ist, dass sie eine Nachricht an die Bewohner und Besucher einer Stadt transportiert und im öffentlichen Raum ihre Präsenz beweist. Das funktioniert umso besser, je größer die Ortsspezifik ist. In Zeiten in denen der Rückzug ins Private und Virtuelle das Bewusstsein für den öffentlichen oder politischen Raum schmälert, sind Diskurse und Auseinandersetzungen von konkreter Bedeutung. Thematisch wollen wir uns in der Stadtraumgalerie mit der Stadtveränderung und damit mit der Verbindung von Vergangenheit und Zukunft motivisch auseinandersetzen. Die bedeutende Industriegeschichte ebenso wie die politischen und sozialen Umbrüche geben Vorlagen für eine kreative Reflexion.
In diesem ersten Motiv spielt zum einen die sozialistische Vergangenheit eine Rolle, deren Spuren trotz Rückbau vieler Industriebrachen und aufwendigen Sanierungen noch deutlich zu sehen sind im Stadtbild von Zeitz. Gleichfalls steht dieses Gebäude im jüngeren zeitlichen Kontext der Jugendkultur dieser Stadt, die hier im Kulturcafé mugge fug von 1999 bis 2008 eine kleine Blütezeit erlebte. Die Leichtigkeit der Jugendjahre, unverhohlen und frei von den Lastern der erwachsenen Welt, drücken sich im Bild aus und vermitteln ein Gefühl der Unbeschwertheit. Derartige Fotos sind es, die sich in das kollektive Gedächtnis der DDR Bewohner eingeschrieben haben. Über die Rolle dieser Bilder ist bereits viel geredet und geurteilt worden. Sie galten als affirmativ oder gar propagandistisch, wurden als Staatskunst verrufen oder als Mittelmaß einer Avantgarde-fernen Provinz belächelt, wie es Wolfgang Kil beschreibt. Auffällt im Rückblick auf die damalige Bildproduktion ist der eigenartige, von Moral getriebene Ehrgeiz der Bildermacher. Eine aufklärerische Hoffnung schwingt hier mit. Bisher wurde nur ein Bruchteil der DDR-Vergangenheit aufgearbeitet, Zeitz schüttelt wie so viele andere Kleinstädte noch immer die restlichen Fetzen dieser Ära ab. In der Provinz ist die postsowjetische Zeit noch manchmal spürbar.
Mit diesem Foto sollen auch die künstlerischen Leistungen so manch verschmähter Fotografen der ehemaligen DDR anerkannt und in den Raum geworfen werden. Krügers Bilder sind ikonografische Zeitdokumente.
Den witzigste Kommentar in den 4 Wochen der Umsetzung des Gemäldes hat ein kleines Kind abgegeben indem es auf den Wasserball zeigte und zu seiner Mutti sagte: „Schau mal, der Sat1 Ball“.
Die Antowrt auf die Frage ob Kunst zu einer realen Veränderung beitragen kann, bleibt in jedem Fall strittig. Sie soll wirken, etwas auslösen, nicht nur in den Museen und Wohnzimmern oder den Verkaufsräumen des Kunstmarkts, sondern vor allem im perforierten Stadtbild, in den Lücken kultureller Identität.
Zeitz, 10.11.2018