November 05, 2024

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Gewünschte Wahrheiten

Gewünschte Wahrheiten

Wer ist der Begründer der Kinderwagenproduktion in Zeitz? Ein Interview.

Bekanntermaßen ist zeitzonline kein Medium der Heimatforschung. Heimatforschern unterstellen wir deshalb nichts, außer der Annahme sie tun, was sie tun nach bestem Wissen und Gewissen. Nun kommt es vor, dass Heimatforscher zum gleichen Sachverhalt unterschiedliche Auffassungen haben. Seit Januar kam nun hin und wieder Post zum Sachverhalt, wer denn nun der ist, welcher als Begründer des Zeitzer Kinderwagenbaus gelte, aus der später die noch später weltbekannte Kinderwagenindustrie wurde: E.A. Naether oder F.A. Degelow. Im Januar erreichte uns eine Abhandlung aus Recherchen und jüngst im März ein Leserbrief. Des einen Heimatforschers Erkenntnisse sind inzwischen reichlich publiziert, des anderen zwar auch bekannt, jedoch nicht in der Breite. Des Letzteren Erkenntnisse fordern jedenfalls zum Diskurs. Deshalb haben wir mit dem Autor dieser Papiere, Hans-Joachim Richter, darüber gesprochen.

zeitzonline: Herr Richter, in Ihrer Untersuchung zu E.A. Naether stellen Sie u. a. fest, E.A. Naether sei nicht der Begründer der Deutschen Kinderwagenindustrie, wie es ein Schild an Judenstraße 2, viele Zeitzer Publikationen, auch das Internet, vermitteln. Das klingt ziemlich querdenkerisch?

Richter: Das klingt nicht nur so, das ist es wohl auch. Denn meine Feststellungen weichen von der in Zeitz, besonders seit der Wende, dominierten Wahrheit, welche E.A. Naether gegenüber F.A. Degelow als ersten Kinderwagen-Hersteller favorisiert, fundamental ab bzw. stellen sie auf den Kopf.

zeitzonline: „von der Wahrheit ( … ) fundamental abweichen“ – Die Wahrheit steht in Zeitz also auf dem Kopf? Starker Tobak, den Sie wie begründen und was schlagen Sie vor?

Richter: Bezüglich der Frage nach Wahrheit, wer der Erste war: ein eindeutiges Ja für Degelow. Naether wird wie ein Olympiasieger behandelt, ohne an den Olympischen Spielen teilgenommen zu haben. Zeitz, die Stadt der unbegrenzten Möglichkeiten! Um die Zeitzer Wahrheit, weg von parfümierter heißer Luft, wieder auf die Beine zu bekommen, sollten die Ausführungen des Zeitzer Chronisten Ernst Zergiebel – Zeitgenosse der heute medial bemühten „Kontrahenten“ – zur Kenntnis genommen und respektiert werden:

„Die erste derartige Fabrik [Kinderwagen] war die des Schlossermeisters F. Degelow, der kurz nach 1848 [Gründung 1843] diesen Industriezweig hier ins Leben rief“.

Richter: Naether findet keine Erwähnung, weil es, wie oben ausgeführt, dazu keine Veranlassung gab. Denn Naether war nicht nur nicht der Erste; er war, wie gesagt, anfangs (ca.15 Jahre) gar nicht dabei. Naethers Zeit kam erst ca. 30 Jahre später (1870/80er Jahre), nachdem er in den 1860er Jahren mit Kinderwagen anfing. In der Frühzeit jedoch, den 1840/50er Jahren, hatte Naether aktiv mit Kinderwagen definitiv nichts zu tun. Was soll ich dazu noch sagen. Die Quellen geben für Naether als Ersten/Begründer/Erfinder/ … einfach nichts her. Kein „missionarischer Eifer“, keine „visionären Gedanken“ und „Geistesblitze“, die Naethers Nachkommen für ihn/sich ausdachten. Auch Naethers spektakuläres, erfolgreiches, nachhaltiges Auftreten mit seiner Perlenschnur aus Kinderwagen bei der Leipziger Messe – Ein Märchen – von A bis Z. Ich habe das in den beiliegenden Recherchen ausführlich dargelegt und eindringlich begründet.

zeitzonline: … und was jetzt?

Richter: In Zeitz sollte es aufhören, faktisch aus dem Nichts herausgepresste, subjektiv-theoretische Konstruktionen zur Rechtfertigung einer gewünschten Wahrheit endlosschleifenartig zu wiederholen. Langsam wird`s stressig bis peinlich. Ohne der „wahren“ Wahrheit gewiss zu sein, sollten keine neuen Tatsachen geschaffen werden, die einer gewünschten, also nicht belegten, Wahrheit huldigen und ihr weiteren Vorschub leisten.

zeitzonline: Sie meinen die Skulptur, über deren Aufstellung in der Judenstraße der Stadtrat in Kürze befinden soll?

Richter: Genau! Den Stadträten mache ich dabei keinen Vorwurf. Woher sollen Sie die objektiven speziellen Gegebenheiten wissen oder erfahren? Aus der Zeitung etwa? Einen Vorwurf sehe ich erst dann als berechtigt, wenn die Stadtväter einer Entscheidung, zustimmen, ohne sich ernsthaft informiert und entscheidungsfähig gemacht haben. Das Ganze sollten die Stadträte, so mein dringliches Anraten, noch einmal verantwortungsvoll überdenken und unabhängig prüfen lassen, ehe sie zustimmen. Allein, dass es der Stadt nichts kostet und doch ganz hübsch aussehen könnte, darf als Argument nicht ausreichen. Zumal dann nicht, wenn ein Werk für die nächsten 100 Jahre eine falsche Aussage zum Anfassen im öffentlichen Raum manifestiert. Ich fände das nicht lustig für Zeitz.

zeitzonline: Wäre es vielleicht sinnvoll, dieses öffentlichkeitswirksame Objekt auch öffentlich zu dabattieren?

Richter: Eine bessere Frage hätten Sie mir abschließend nicht stellen können. Von den obigen Ausführungen mal abgesehen, sehe ich an dieser Stelle das Denkmal mithin am verkehrten Platz. In einer der wenigen völlig intakten Straßen würde eine auf einem 80x120x60 cm mächtigen Steinsockel stehende Bronze-Skulptur mit dem stilistisch hochrangigen Capitol und der Gedenkstätte des jüdischen Beetsaales konkurrieren ? Das fühlt sich wenig durchdacht und spontan an.
Ich fühle mich nicht allein, was die überraschende Information zur bevorstehenden Installierung des Naether-Denkmals anlangt. Wenig Zeit bleibt für Diskussionen. Die Bevölkerung an der Gestaltung ihres Lebensraumes zu beteiligen und ein Miteinander anzuregen, halte ich für äußerst förderlich, ja unabdingbar. An diesem sozial-verbindenden Aspekt könnte das Deutsche Kinderwagen-Museum, seinem wissenschaftlichen Anspruch gerecht werdend, federführend mitwirken und damit zugleich an Profil gewinnen.

Demnächst in KulturZeitz (Änderungen vorbehalten)

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About The Author

REINER ECKEL Jahrgang 1953, wohnt in Zeitz. Der Web 2.0-Enthusiast ist in Sachen Web, Grafik und Layout als Autodidakt unterwegs. Betreibt zeitzonline.de seit 23. Februar 2011.

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